Smalltalk mit den Fußballstars – Jared kann sein Glück kaum fassen
Jared aus München ist 9 Jahre alt und fußballbegeistert. Vor zwei Jahren wurde bei ihm ein Nierentumor diagnostiziert. Kurz vor dem Anpfiff des EM-Eröffnungsspiels durfte er mit deutschen Nationalkickern sprechen – dank eines internationalen Projekts.
Es ist kurz vor sechs. Jared flitzt aufgeregt durch die Wohnung. Heute trägt er seine rote Bayern-München-Trainingsjacke, seine Lieblingsjacke. Immer wieder klingelt es an der Tür – nach und nach treffen seine Freunde ein, denn heute wird gefeiert. Das Eröffnungsspiel der Euro 2024 in München steht kurz bevor – um 21.00 Uhr empfängt Gastgeber Deutschland die schottische Nationalmannschaft. Auf dem Tisch stehen kleine Schüsseln mit Chips und Gummibärchen, wie es bei Kindergeburtstagen häufig der Fall ist. Eine große Deutschlandflagge liegt anstatt einer Tischdecke glattgestrichen auf dem Couchtisch, darauf ein Laptop, verbunden mit dem Fernseher an der Wand.
Von hier aus wird Jared die nächsten zwei Stunden einen fahrbaren Roboter steuern, der wiederum in der Allianz Arena platziert ist. Unten rechts in der Ecke des Monitors sieht Jared sich selbst. Es ist dasselbe Bild, das seine Gegenüber im Stadion auf ihrem Monitor sehen.
Krebskranker Jared: „Mit den Spielern sprechen? Völlig irre!“
Als Jared erfahren hat, dass er zu den wenigen Kindern in Deutschland gehört, die bei dem Projekt der UEFA Foundation for Children, Awabot, Hisense Sports und der Stiftung Ambulantes Kinderhospiz München (AKM) mitmachen darf, kann er sich erst noch gar nichts Genaues darunter vorstellen. Er fragt sich, wie das funktionieren soll. „Mit den Spielern sprechen? So kurz vor dem Spiel? Völlig irre!“
Ein kleiner Rückblick: Es ist lange her, dass Jared mit Freunden ausgelassen feiern konnte. Im Januar 2022 bricht für die kleine Familie aus München eine Welt zusammen. Jared klagt seit einigen Wochen immer wieder über Bauchschmerzen. „Nichts Schlimmes“, denkt seine Mutter, „so etwas kommt bei Kindern häufig vor“, beruhigt sie sich. Vor allem abends verstärken sich die Schmerzen und sie klingen einfach nicht ab. Schließlich gehen Vater und Sohn zum Kinderarzt. Noch immer glauben sie an etwas Harmloses – vielleicht eine Lebensmittelunverträglichkeit? Doch der Hausarzt schöpft einen Verdacht und überweist Jared umgehend zur weiteren Abklärung an die Kollegen ins Krankenhaus.
Untersuchung, Blutabnahme, Ultraschall, CT, MRT… das komplette Diagnostikprogramm. Die Eltern werden irgendwann – die Zeit ist in diesem Moment für sie stehengeblieben – ins Sprechzimmer gebeten. Die erschütternde Diagnose lautet: Nephroblastom – ein bösartiger Tumor an der Niere, in der Lunge befinden sich bereits Metastasen.
Münchner Junge mit unfassbarer Leidensgeschichte
Es folgen Chemotherapie und Bestrahlung. Nach dem ersten Chemo-Block stellen die Ärzte zusätzlich eine Corona-Erkrankung fest. Eine Stammzellentransplantation wird im Verlauf der Therapie notwendig. Die Zeit in der Klinik ist für die Familie eine einzige Zerreißprobe. Hilfe und Unterstützung bekommt sie von der Stiftung Ambulantes Kinderhospiz München (AKM), die seit 2004 Familien mit unheilbar kranken und lebensbedrohlich schwersterkrankten Ungeborenen, Neugeborenen, Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie Elternteilen betreut.
Das alles ist gerade Mal ein paar Monate her – der Nierentumor und die Metastasen in der Lunge sind inzwischen weg. Letzte Woche musste Jared zu einer Nachuntersuchung zurück ins Krankenhaus. Kein leichter Weg. Man kennt sich hier – ist irgendwie eine Community. „Neue“ erkennt Jared sofort. Seine Mutter sagt nur kurz: „Du siehst es in den traurigen Augen der Eltern.“ Schweigen.
Zurück ins Wohnzimmer. Es ist 19.00 Uhr und die Verbindung ins Stadion steht. Ein Mitarbeiter der Firma Awabot, die die Roboter ursprünglich in Frankreich für das Home-Schooling schwerkranker Kinder entwickelt und mittels Sponsoring von Hisense Sports umgesetzt hat, führt Jared durch die Navigation auf dem Laptop. Schnell checkt er die wichtigsten Tricks und Kniffe – und schon saust das Ungetüm per Computermaus durch die Katakomben des Stadions. Noch ist die deutsche Mannschaft im Hotel – heute braucht sie nur läppische neun Minuten zum Stadion, erfährt Jared später vom Busfahrer der Mannschaft.
Mit dem Roboter durchs Stadion – Blick auf Manuel Neuer
Genug Zeit, um eine kleine Tour durch die Arena zu starten. Als erstes wird die Kabine der Bayern-Stars inspiziert. Sie bleibt heute ungenutzt. Erstaunt stellen Jared und seine Freunde fest, dass hier sogar eine Kaffeemaschine herumsteht. Was die Spieler wohl am liebsten essen und trinken? Eine Frage, die sich die Kinder für später aufgehoben haben. Nachdem auch das letzte Eck der Umkleidekabine erkundet wurde, geht die Besichtigungstour weiter. Das Ankommen der Mannschaft hat Jared leider verpasst – dafür geht es mit dem Roboter jetzt in Richtung Rasen und Innenraum.
Gegen 20 Uhr betreten die DFB-Stars zum Aufwärmen das Spielfeld. Das Stadion ist mittlerweile fast komplett gefüllt und selbst über das Außenmikrofon hören die Kinder im Wohnzimmer die Gesänge der Fans auf den Rängen. Jared navigiert den Roboter geschickt durch die Security am Seitenrand des Spielfeldes bis zur Eckfahne. Von hier aus kann er genau sehen, wie sein Lieblingstorhüter Manuel Neuer sich nach den Bällen streckt.
Allmählich wird es immer schwieriger, das Gefährt durch die große Ansammlung von Fotografen und Journalisten, Security und UEFA-Mitarbeiter*innen und allen anderen herumstehenden Personen zu steuern. Außerdem ist es höchste Zeit, zurück ins Stadiongebäude zu fahren. Jared brennen viele Fragen auf den Nägeln. Schon vor einigen Tagen hat er sich Gedanken gemacht, was er von den Spielern wissen möchte. Angefeuert und unter dem Jubel seiner Freunde, schafft Jared es rechtzeitig mit dem Roboter zurück in den Innenbereich des Stadions. Die ersten Spieler kommen gerade wieder vom Aufwärmen die Stufen der steilen Treppe in der Arena hinauf. Manche sind bereits „im Tunnel“, hoch konzentriert – sie haben Kopfhörer auf den Ohren. Andere winken kurz in die Kamera und gehen schnell weiter.
„Was ist euer Lieblingsessen?“ – Emre Can: „Döner“
Doch die Kinder schreien sich die Kehle aus dem Leib und verschaffen sich dadurch tatsächlich die nötige Aufmerksamkeit. Nico Schlotterbeck und Emre Can bleiben direkt vor dem Roboter stehen. Vor lauter Schreck weiß Jared im ersten Moment gar nicht, was er fragen soll. Er schaut verzweifelt zu seinem älteren Bruder Colin, der neben ihm sitzt. Colin springt ein. Er zögert nicht lange und fragt laut: „Was hört ihr für Musik?“ Nico Schlotterbeck antwortet zuerst: „Deutschrap und Pop.“ Jetzt ist auch Jared wieder am Start und fragt gleich hinterher: „Und was ist euer Lieblingsessen?“ Ohne zu zögern und lachend antwortet Emre Can: „Döner“. Es wird gewunken und noch einmal gelacht und dann verschwinden die beiden auch schon wieder Richtung Kabine.
Die Partytruppe ist etwas erschöpft, in der Wohnung ist der Lärmpegel in den letzten eineinhalb Stunden kontinuierlich gestiegen. Die Luft ist zum Schneiden – die Fenster müssen dringend geöffnet werden. Den Kindern, aber auch den Erwachsenen, ist vor lauter Aufregung ganz heiß geworden. Nur Jared lässt seine rote Lieblingsjacke weiterhin an. Bis zum Anpfiff des Spiels bleibt nicht mehr viel Zeit. Jareds Vater hat in der Zwischenzeit Pizza geholt und sie auf großen, runden Holzplatten angerichtet. Die kleine Fangemeinde springt aufgeregt durcheinander – es wird leicht chaotisch.
„So cool, Jared, das hast du wieder einmal super gemacht!“
Die jungen Gäste werden nach und nach von ihren Eltern abgeholt. Sie schließen ihren Freund abwechselnd in die Arme. Einer ruft zum Abschied: „So cool, Jared, das hast du wieder einmal super gemacht!“ Sie sind glücklich über das Erlebte und gleichzeitig dankbar, mit Jared endlich wieder unbeschwert zusammen sein zu können.
Während sich die Spieler im Stadion in der letzten Konzentrationsphase vor dem Anpfiff befinden, schmeißt Jared sich erschöpft aufs Sofa. Die Hymnen erklingen. Müde und glücklich legt er den Kopf in den Schoß seines Vaters. Die beiden sitzen auf der Couch vor dem großen Fernseher. Die Party ist vorbei – das Spiel kann beginnen.
Dieser Text erschien zuerst bei FOCUS online.