Wenn das „Willkommen“ zum Abschied wird

Traumafolgestörungen vorbeugen: Wie wir Sternenkind-Familien beistehen 

„Ich wünschte, die Familien wüssten, dass sie nicht alleine mit ihrem Schicksal sind“, seufzt Katharina Müller, Psychologin und langjährige Leiterin des Krisendienstes RUF24 der Stiftung Ambulantes Kinderhospiz München (AKM). Einsamkeit, Momente wie im falschen Film, aber auch Schuldgefühle plagen Familien, die ihr sehnlichst erwartetes Kind vor, während oder kurz nach der Geburt verlieren. Auch wenn die offiziellen Statistiken die Zahl der Familien mit derartigen Schicksalen nicht immer korrekt abbilden können, „gibt es eine hohe Dunkelziffer an Sternenkindern“, weiß Katharina Deeg, erfahrene Kinderhospizfachkraft im Zentrum Niederbayern.

Auch die Daten des statistischen Bundesamtes untermauern diese These: Im Schnitt werden mindestens 4,3 von 1000 Kindern totgeboren. Seit 2007 ist dieser relative Anteil dabei um 24 Prozent gestiegen. (vgl. Statistisches Bundesamt 2022)

Sternenkinder, die bereits vor Beginn der 24. Schwangerschaftswoche verstarben oder das Gewicht von 500 Gramm nicht erreichten, finden in dieser Statistik jedoch keine Beachtung und werden nicht erhoben.

Individuelle, gangbare Wege

Die Stiftung AKM bietet dennoch allen betroffenen Familien Hilfestellung. Dabei unterscheiden sich die Bedarfe und Herausforderungen: Neben Familien, die ein nicht lebensfähiges Kind erwarten oder bereits eine Totgeburt erleben mussten, begleiten die Fachkräfte auch Familien, die während der Schwangerschaft eine lebensbedrohliche oder lebensverkürzende Diagnose erhielten. „In allen Fällen steht aber im Vordergrund, mit den Familien gangbare, individuelle Wege zu erarbeiten“, weiß Katharina Deeg, die bereits viele Betroffene auf diesem schweren Pfad begleitete. „Der größte Stein, der den Familien nach der Diagnose in den Weg gelegt wird, ist der Zeitdruck. Bei lebensunfähigen Kindern wird oft zu schnell ein möglicher Fetozid thematisiert.“ Deshalb suchen die Fachkräfte der Bereiche RUF24, Kinderhospizarbeit und Therapeutische Kurzintervention teils deutschlandweit nach Optionen, die alle Familienmitglieder beschreiten können. Ein Beispiel hierfür ist der palliative Weg, der eine künstliche Geburtseinleitung ohne Schmerzen für das lebensunfähige Kind bedeutet.

Trauma entsteht durch fehlenden Abschied

„Familien sammeln Existenzbeweise, deshalb ist ein Kennenlernen auch bei Lebensunfähigkeit enorm wichtig“, sind sich Deeg und Müller einig. Das Kind in den Armen halten, Erinnerungen schaffen, die Besonderheiten einprägen, dem Sternenkind einen Namen geben, das Leben des Kindes als solches anzuerkennen, sind Beispiele für entscheidende Eindrücke, denen bei der Trauerverarbeitung große Bedeutung zugeschrieben werden. Das oberste Ziel einer jeden Begleitung ist schließlich die Vorbeugung von Traumafolgestörungen und damit die Erhaltung der psychischen Gesundheit von Betroffenen. Oft werden die Familien dann an den Krisendienst RUF24 verwiesen, der diese an die weiteren Angebote der Stiftung AKM weitervermittelt und so das Tor zur unmittelbaren Unterstützung öffnet.

„Um Traumafolgestörungen zu verhindern, ist eine frühzeitige Begleitung und damit die Anerkennung der Ausnahmesituation, in der sich betroffene Familien befinden, vonnöten“, stellt Brigitte Schratzenstaller, Leitung RUF24-Niederbayern und Kinderhospizfachkraft, fest. „Zusammen mit den Familien bauen wir so die Scheu ab, mit den verstorbenen Kindern zu interagieren. Der Abschied wird dadurch begreifbarer, für die Eltern, aber auch für Geschwisterkinder.“ Oft erleben die Fachkräfte der Stiftung AKM dabei den Trugschluss, Geschwister möglichst vom Kontakt mit Verstorbenen fernhalten zu wollen. Jedoch zeigt die seit 2004 gewonnene Erfahrung, dass Kinder sehr klar mit derartigen Situationen umzugehen wissen. „Ein Trauma entsteht nicht dadurch, dass man sein totes Geschwisterkind sieht. Vielmehr wirkt es sich traumatisch auf die Psyche von Kindern aus, keinen Abschied nehmen zu können.“ Zu diesem Schluss kommen auch Florian Rauch, Nicole Rinder und Tita Kern in ihrem Buch „Wie Kinder trauern“ (2017).

Hürdenlauf ohne sichtbares Ziel

Doch der Prozess des letztendlichen Abschiedes markiert mitnichten die einzige Hürde, die betroffene Familien auf ihrem Weg zu überspringen haben. „Zunächst geht es auch darum, den Geschwisterkindern altersgerecht zu erklären, dass das erwartete Kind nicht leben wird. Zu erläutern, dass sie sich bislang umsonst auf ein weiteres Geschwisterchen gefreut haben“, beschreitet Katharina Deeg exemplarisch den Weg einer von ihr begleiteten Familie neu. „Auch während der Schwangerschaft den Kontakt zu einem Bestattungsunternehmen aufzunehmen, beziehungsweise sich über das Bestattungsrecht von Sternenkindern zu informieren, ist eine massive Herausforderung.“

„Ich stehe mit meinem Babybauch beim Bestatter und plane die Beerdigung meines Kindes. Es ist skurril und unwirklich, es passt in meinem Kopf nicht zusammen. Ich lerne mein Kind nie kennen, muss mich aber trotzdem verabschieden können.“ (Gedankenprotokoll im Gespräch mit einer betroffenen Mutter, Katharina Deeg)

Der Hürdenlauf nimmt scheinbar kein Ende. Auch die Phase kurz vor der Geburt, beziehungsweise künstlichen Geburtseinleitung ist eine Zeit der inneren Zerrissenheit für betroffene Paare. Auf der einen Seite steht dann die Vorfreude auf das Kennenlernen, den besonderen Moment, auf der anderen Seite die Furcht vor der Gewissheit, seinem toten Kind in die Augen sehen zu müssen. Das „Willkommen“ und die Verabschiedung dann gleichzeitig zu begehen, konsolidiert die konträren Gefühlslagen auf diesem langen Pfad nochmals. „Der Moment der Realisierung tritt allerdings teils auch erst beim allerletzten Abschied am Sarg ein, Betroffene brechen zusammen und lassen ihrem Schmerz freien Lauf.“ Katharina Deeg lässt alle Emotionen gewähren, ist als Stütze und Beistand allerdings auf dem gesamten Weg stets greifbar.

„Ich erkenne plötzlich, dass meine eigene Schwangerschaft, dieser Zustand der guten Hoffnung, nicht mehr länger existiert. Es gibt nur noch schwarze Wolken, es bleibt nur das Gefühl –Oh mein Gott –vielleicht trage ich in mir ein komisches Wesen, verunstaltet und verformt and krank und behindert.“ (Flaig, F., Lotz, J. D., Knochel, K., Borasio, G. D., Führer, M., & Hein, K. (2019). Perinatal Palliative Care: A qualitative studyevaluatingtheperspectivesofpregnancycounselors. Palliative medicine, 0269216319834225.)

Der Tod, die Verabschiedung, die Beerdigung entlassen die Betroffenen dann wieder zurück ins Leben. Auch der „Weg danach“ benötigt oft Hilfestellung und Begleitung. Speziell im ländlichen Raum zeigt die Erfahrung der Kinderhospizfachkräfte nämlich, dass das soziale Umfeld und oder der Arbeitgeber oft kein Verständnis für die enorme Belastung zeigen. Schließlich besteht der Anspruch auf Mutterschutz rechtlich nur bei Totgeburten nach der 24. Schwangerschaftswoche und einem Mindestgewicht des verstorbenen Kindes von 500 Gramm, ein allgemeiner Anspruch bei Fehlgeburten jedoch nicht. In diesen Fällen informieren die Fachkräfte über die Möglichkeiten einer Krankschreibung, um dem Druck der Arbeitgeber/des sozialen Umfeldes zuvorzukommen.

„Ich gehe leer nach Hause. Kann ich eigentlich noch ein Kind bekommen oder will ich es überhaupt nochmal riskieren, diese Gefühlslagen nochmal durchleben zu müssen?“ (Gedankenprotokoll im Gespräch mit einer betroffenen Mutter, Katharina Deeg)

„Den Alltag neu zu strukturieren und täglich mit seinem eigenen Schicksal klarzukommen, ist die größte Herausforderung nach einer Tot- oder Fehlgeburt“, können Müller, Deeg und Schratzenstaller einhellig bestätigen. Gerade deshalb ist die Nachbetreuung Betroffener so essenziell.

 

Wissenswert: Die Angebote der Stiftung AKM im Bereich der prä- und perinatalen Begleitung sind nicht nur für betroffene Familien hilfreich, auch Kliniken können profitieren und beispielsweise den Krisendienst RUF24 nutzen. „Wir entlasten die Kliniken gerne, wenn eine adäquate psychosoziale Begleitung Betroffener aufgrund von Personalmangels nicht möglich ist. Die Hebammen in den Kliniken machen einen herausragenden Job, können teils aber die entsprechende Begleitung nicht mehr leisten“, verbildlicht Katharina Müller die Potentiale externer Hilfestellung für Kliniken durch die Stiftung AKM. So können plötzliche und unerwartete Abgänge seitens der Kliniken an den Krisendienst RUF24 weitergegeben werden, um etwaige Überlastungen abzufedern.

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